Das Unrecht sagt nie: „Seht her, ich bin das Unrecht“. Es sagt stets: „Ich bin das Recht“. Unrechtssysteme kommen auch nicht über Nacht, sie entstehen schleichend, auf den Gewöhnungseffekt bauend, die Umdeutung der Begriffe vorantreibend, die Ermüdung ihrer Gegner ausnützend, nach und nach immer mehr Menschen zu Komplizen machend. Für Flüchtlinge vor Mord, Krieg, Verfolgung, Folter, Vergewaltigung und Not herrscht in Europa schon lange kein Recht mehr, das noch etwas mit Gerechtigkeit zu tun hätte, sondern Recht genanntes Unrecht. Wer es bis nach Europa schafft, wird eingesperrt, ganze Familien kommen in Lager, man trennt Kinder von den Eltern, man schickt diese Menschen von Land zu Land, von Stacheldrahtverhau zu Stacheldrahtverhau, als handle es sich um Tiere. Im Morgengrauen treten Polizisten, denen man ihre Menschlichkeit durch die dicken Panzerungen der Uniformen kaum noch ansieht, Türen ein und nehmen Leute mit, reißen Kinder aus den Armen ihrer Mütter und Väter, verteilen Schläge, drohen mit der Waffe. Menschen verschwinden in Polizeikasernen, werden verhört, eingesperrt und deportiert. Wer diesen Menschen hilft, wer ihnen Unterkunft bietet oder sie vor den Behörden verbirgt, vergeht sich gegen das Recht genannte Unrecht und macht sich strafbar. Haftstrafen drohen. Fluchthelfer nennen sie Schlepper, und wer Flüchtlinge unterstützt, kann wegen Beihilfe zur Schlepperei belangt werden. Menschen werden in legale und illegale eingeteilt, als dürfe man die bloße Existenz eines Menschen kriminalisieren.
Wie konnte es soweit kommen? Wann haben wir angefangen, wegzusehen? Als „guter Mensch“ zum Schimpfwort wurde? Als wir anfingen, den rassistischen Mob befrieden zu wollen, indem wir selbst immer rassistischer wurden? Als Flüchtlingsheime brannten und die Politiker darauf mit Verständnis für die Brandstifter reagierten? Als sich in der Krise zeigte, dass Toleranz, Liberalität, Solidarität und Menschlichkeit für allzu viele nur Schönwetter-Luxusschmuckstücke waren, die eine immer schon hässlich gewesene Psyche behübschen sollten? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass einst Hunderttausende das Lichtermeer, die größte Demonstration der österreichischen Nachkriegsgeschichte, besuchten, um gegen das Anti-Ausländervolksbegehren der FPÖ zu protestieren, und heute, 20 Jahre später, viele damaligen Forderungen der Rechten umgesetzt sind und noch die gröbsten Verstöße gegen das, was anständige Leute als Menschenwürde empfinden, kaum noch Widerstand und Widerspruch auslösen.
Unrecht macht sich zu Recht, indem zunächst einer Gruppe von Menschen die Menschenrechte langsam aberkannt werden. Geschieht dies ohne allzu große Widerstände, wird das Unrecht auf weitere Gruppen ausgedehnt. Nicht Flüchtlinge allein sind in Europa bedroht, auch Europäerinnen und Europäer bekommen zu spüren, dass 70 Jahre antifaschistische Sonntagsreden aus Arschlöchern keine besseren Menschen gemacht haben. In Duisburg formierte sich ein Pogrom-Mob gegen ein Haus, in dem vornehmlich Roma wohnen. Die Mordlust sprang einem aus tausenden Internetkommentaren ebenso entgegen wie aus den Augen und Mündern jener Brandstifter in spe, die sich vor dem Haus zusammenrotteten. Ähnliches geschah kurz danach in Österreich, wo ländliche Jugendliche sich per Facebook dazu verabredeten, Roma gewaltsam vom Grundstück eines Landwirts zu vertreiben. Jeder erhobene Zeigefinger, den westeuropäische Politikerinnen in den vergangenen Jahren gegen die systematische Diskriminierung von Roma und Sinti in Ungarn, Tschechien, Slowakei, Rumänien und Bulgarien erhoben, darf wieder in die Hosentasche gesteckt werden, denn kein Spitzenpolitiker stellte sich in Westeuropa hin und verteidigte ohne Wenn und Aber das Lebensrecht der Bedrohten. Stattdessen ließen italienische Bürgermeister Roma-Camps schleifen und die Franzosen warfen Roma aus dem Land. Reisefreiheit, Niederlassungsfreiheit – alles nur Gewäsch, wie sich nun zeigt. Sobald die Spießbürger mordlüstern werden, weil jemand den Müll nicht so entsorgt wie sie, wird Politik im Sinne der Mordlüsternen gemacht.
Wir alle sind schuld an den Zuständen. Wir, die wir jahrelang tatenlos zuschauten, wie Jörg Haider „mutmaßlich straffällige Asylbewerber“ in ein Lager in den Bergen steckte. Wir, die wir mit den Achseln zuckten, als Polizisten Marcus Omofuma umbrachten. Wir, die wir uns wieder in die Betten kuschelten, als wir von Verhaftungen und eingetretenen Türen hörten. Wir, die wir zuließen, dass freche Bösmenschen den Begriff „Gutmensch“ zum Schimpfwort machten und in Millionen Gehirne damit die Botschaft einpflanzten, es sei okay, ein Drecksack zu sein. Wir, die wir uns einen Scheiß um unsere Mitmenschen kümmern weil wir nicht merken, dass unser Egoismus letztlich auch unser eigener Untergang sein wird. Wir, die wir es ertragen können, dass Menschen in mit Stacheldraht bewehrten Käfigen sitzen, bloß weil sie Flüchtlinge sind.
Hat dies auf ARTBRUT rebloggt.
Unrecht ist auch, nur jene aufzunehmen, die es sich leisten konnten, auf ihrer „Flucht“ bis nach Österreich zu kommen. Was ist mit den anderen? Die sind sicher noch viel ärmer dran.
Dass wir nicht alle aufnehmen können, wird wohl kaum jemand bezweifeln.
Seit wann sind Roma und Sinti Asylanten? Gibt es einen Krieg in Rumänien, Bulgarien…….?? Ach ja, die Freizügigkeit. Noch so eine Freizügigkeit: In Geschäftspassagen und Hausfluren seine Notdurft zu verrichten… und das nennst du verharmlosend „den Müll nicht richtig zu entsorgen“……???
Österreich /Europa sollte seine Kräfte bündeln, um für diese Leute VOR ORT menschenwürdige Bedingungen zu schaffen. Wieso, um alles in der Welt, müssen alle nach Europa?? Das ist mittlerweile eine Landnahme. Und jeder, der das leugnen will, ist bestenfalls ein Sozialromantiker, schlechtestenfalls der Feind seiner eigenen Kinder.
Lieber Gut- als Miesmensch 🙂
Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen einem „guten Menschen“ und einem „Gutmenschen“. Er entspricht ungefähr dem zwischen einem moralischen Menschen und einem Moralisten.
„Die Existenzbedingung der Guten ist die Lüge – anders ausgedrückt, das Nicht-sehen-Wollen um jeden Preis, wie im Grunde die Realität beschaffen ist, nämlich nicht derart, um jederzeit wohlwollende Instinkte herauszufordern, noch weniger derart, um sich ein Eingreifen von kurzsichtigen gutmütigen Händen jederzeit gefallen zu lassen.“ (Friedrich Nietzsche)
@Lodovico September 18, 2013 um 10:37 vormittags –
So, nun mal hier eine unpassende (?) Preisfrage:
Wer war Nietzsche? Was bleibt von SEINEM Satz, wenn ich diesen konsequent auf ihn selber anwende?
Aha, da wäre dann wohl ein Problem – wie immer, wenn seine Feststellungen auf ihn selber angewendet werden – er hatte damit nie gerechnet, daß das jemand wagen würde, das „Eingreifen von kurzsichtigen gutmütigen Händen“ der „jederzeit wohlwollenden Instinkte“ …
Offensichtlich hielt wohl Ni. sich für einen „Guten“, aber:
„die Existenzbedingungen der Guten ist die Lüge …“ –
oder hielt er sich selbst doch nicht für „gut“, für „gut genug“, wenn er diese (auch für ihn) ungute Feststellung trifft?
Die Frage, ob er ein „Guter“ ODER ein „Lügner“ war kann er sich damit nichteinmal selber stellen, denn ist er das eine, so ist er nach eigener Erkenntnis auch das andere, wie auch immer.
Also eventuell etwas Vorsicht bei klug erscheinenden Sprücheklöpfern, denn meist dies kurzen Passagen widerlegen sie unbarmherzig stets selbst.
aber @lindwurm:
du hast dich verändert (wo ich doch selber noch immer die Brille nicht wechselte, muß da was geschehen sein …) – wieder ein Volltreffer, und zwar ein Unrechts- aber kein unrechter Volltreffer.
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