Die Krise, die nicht enden will, obwohl staatlich alimentierte Wirtschaftsforscher mit strahlenden Gesichtern von Wachstum und sich entspannenden Arbeitsmärkten faseln, ist eine sich in Wirklichkeit stets weiter zuspitzende Krise der Überproduktion und eine Krise der Arbeit an sich. Wer glaubt, die Krise, die 2008 sich nur deutlicher zeigte als zuvor, sei überwunden, der möge sich die wachsenden Wohnwagensiedlungen rund um amerikanische Städte ansehen, in denen jene Menschen leben, deren Arbeitskraft nicht mehr wertvoll genug ist, um sie gegen eine Wohnung einzutauschen. Oder er möge sich mit Briten unterhalten, die täglich vier Stunden zur Arbeit und von dieser zurück pendeln, da ein Leben in der Nähe des Arbeitsplatzes für sie nicht bezahlbar ist. Vor allem aber möge er oder sie sich ansehen, welchen Aufwand Staaten rund um die Welt betreiben, um dem jetzt schon großen und stetig weiter wachsenden Heer der Überflüssigen Herr zu werden. In China führen sie ein System der totalen Überwachung und Bewertung aller Bürger nach ihrer Nützlichkeit und ihrem Gehorsam ein. Wer durch einen unangepassten, womöglich auch noch die eigene Arbeitskraft schädigenden Lebenswandel auffällt, kommt auf schwarze Listen und wird bestraft, ohne dass ein Beamter dazu ein Schriftstück unterzeichnen müsste. Das System funktioniert vollautomatisch. Computerprogramme, die jede Regung jedes Bürgers überwachen, erstellen ohne Unterlass Bewertungen dieser Bürger und verhängen automatisierte Sanktionen gegen Abweichler und ökonomisch Nutzlose. In Ungarn verrichten Arbeitslose Zwangsarbeit und in Österreich wollen sie Arbeiter und Arbeiterinnen einer dauerhaften Kontrolle ihres Gesundheitszustandes unterwerfen, die sofortige und verpflichtende Reparaturmaßnahmen einleitet, sobald ein Arbeitskraftverkäufer gesundheitlich ins Straucheln gerät. Ein Staat nach dem anderen kriminalisiert Armut und Obdachlosigkeit. Auf den Philippinen lässt Regierungschef Duterte Drogenkranke, die sich wegen ihrer Krankheit nicht ausreichend verwerten lassen, mittels Massenmord beseitigen. Das alles und mehr ist kein Anzeichen dafür, dass die Krise vorbei wäre, sondern ein Vorschein auf eine Eskalation der Barbarei. Passend dazu erleben wir eine globale Regression in Irrationalität und Primitivität.
Ich bin mir allerdings gar nicht sicher, ob man hier von Regression sprechen sollte. Regression würde eine stattgefunden habende Weiterentwicklung voraussetzen, von der aus man zurückfallen könnte. Treffender ist der Begriff Degeneration. Beispielsweise in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts waren Verständnis von den und Kritik an den Verhältnissen auch nicht klüger oder weiter entwickelt als heute, aber die politischen Verwalter der kapitalistischen Welt waren immerhin darauf bedacht, ihre Funktion als Charaktermaske nicht allzu deutlich kenntlich zu machen. Heute verkünden immer mehr Politiker und Politikerinnen offen, sie seien nur Platzhalter für die, die ihnen folgen werden, nachdem sie selbst ihre Aufgabe, die meist darin besteht, die Interessen nationaler Kapitale oder bestimmter Kapitalfraktionen zu vertreten, erfüllt haben. Die Phrasen dazu gehen in etwa so: „Politik ist nicht das Einzige in meiner Lebensplanung“; „nach der Politik möchte ich mich noch anderen Dingen widmen“ und so weiter. Das Andere ist aber nie eine neue Karriere als Bienenzüchter, Trappistenmönch oder Fluchthelferin, sondern immer ein Aufsichtsratsposten hier, ein Beratervertrag dort und dazwischen alles andere, was viel Geld einbringt. Nicht die Lust am Geldverdienen ist verwerflich, sondern das offene Bekenntnis zur Korruption, das geradezu lustvolle und dabei schamlose Offenlegen der realen Funktion der Politik in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften. Diese moralische Degeneration ist eine der Hauptursachen für die Selbstzerstörung vieler sozialdemokratischer Parteien, denen jene Bevölkerungsgruppen, die Sozialdemokraten eigentlich vertreten sollten, es besonders übel nehmen, wenn sie sich als das zu erkennen geben, was sie sind, nämlich inhaltlich entkernte und orientierungslose Haufen, allzu oft angeführt von Figuren, die nichts anderes interessiert als das persönliche Fortkommen in einer Gesellschaft, die gerechter zu machen zu versuchen sie längst aufgegeben haben.
Die immer weiter steigende Attraktivität barbarischer Ideologien, deren Hauptmerkmal der Rückzug auf Tribalismus und Identitäten ist, hat viel mit einem Mangel an Verständnis für die Wirklichkeit zu tun und weniger mit einem an „Bildung“. Bildung, wie sie inzwischen definiert wird, also als Erwerb von Fähigkeiten, die den Wert der eigenen Arbeitskraft erhöhen, hilft so wenig wie Bildung im klassischen humanistischen Sinne. Die besten Kunden esoterischer Schlangenölverkäufer sind Akademiker, die schlimmsten und dümmsten Nazis bestehen oftmals darauf, mit ihrem akademischen Titel angeredet zu werden. Bildung an sich ist nutzlos als Antidot gegen den Aufmarsch der Zivilisationsfeindlichkeit. Allenfalls Aufklärung könnte helfen, aber Licht ins Dunkel des Denkens zu bringen, ist mühsam und oftmals, da rasche Erfolge ausbleiben, frustrierend. Nicht nur der Aufklärer hat es schwer, sondern auch die, die einer Aufklärung bedürfen. Weil sie es schwer haben, finden sie ideologische Angebote gut, die es ihnen leicht zu machen versprechen. Weil die meisten nicht verstehen, dass sie in einem totalen System leben, in dem das Verhalten des Individuums nur einen beschränkten Einfluss auf dessen Lebensumstände hat, glauben sie umso inbrünstiger an das Märchen von der Eigenverantwortung und an Schauergeschichten von verschlagenen Eliten, die auf geheimen Kongressen die Geschicke der Welt dirigieren. Weil sie nicht begreifen können, welche Verhaltensweisen der Kapitalismus allen in ihm lebenden aufzwingt, sehen sie sich zurück nach den Gutenachtgeschichten ihrer Kindheit und den Hervorbringungen der Unterhaltungsindustrie, in denen es „Gute“ und „Böse“ gibt, Helden und Schurken. An diese Sehnsucht nach der vermeintlichen Simplizität, nach Dualität docken die Ideologien an, die Menschen in „Wir“ und „Die“ einteilen, in „Nützliche“ und „Unnütze“, in „Gläubige“ und „Ungläubige“, in „Inländer“ und „Ausländer“.
Wir sind auf einem schlechten Weg, auf einer Straße, die zu Ausgrenzung, Mord und Krieg führt. Ist also alles hoffnungslos? Eine Maschine, in die einen Holzschuh zu werfen sie bestenfalls kurz verlangsamt? Ich sage es mal so: Für Optimismus besteht kein übertrieben großer Anlass, aber noch ist nicht alles verloren. Eine Linke, die sich des Internationalismus und Universalismus besinnt und vor allem nicht nur den kapitalistischen, sondern auch den eigenen Arbeitsbegriff endlich kritisch aufarbeitet, könnte das Schlimmste noch verhindern. Dazu müsste sie aber die Last in Jahrzehnten angehäufter Dogmen über Bord werfen und Marx neu denken, neu verstehen lernen. Dazu ist übrigens die Lektüre der klassischen marxistischen Literatur nicht mal ansatzweise so nützlich wie eine kritische, von Solidarität geprägte Auseinandersetzung mit den Menschenmassen, die das Kapital als überflüssig ausscheidet, und vor allem mit dem Umgang der politischen Verwalter mit diesen Massen. Eine Linke, die ihrer Position als Arbeitskraftverkäufer beraubte Menschen als „Lumpenproletariat“ beschimpft, hat schon verloren und wird auch dann verloren haben, sollte sie eine Form von Macht erringen. Eine Linke, die im Arbeitsbegriff des 19. Jahrhunderts gefangen bleibt, muss scheitern beim Versuch, die aktuellen Vorgänge auch nur richtig zu verstehen, geschweige denn in Richtung Humanität verändern zu können. Wer die Machtverschiebung von der Arbeit zu den neuen Monopolen nicht erkennt, erkennt auch nicht die Ohnmacht der Gewerkschaften und ihrer Kampfmethoden von gestern. Und schließlich: Die Linke hat eine Chance, aber die hat sie nur dann und die verdient sie nur dann, wenn sie statt irgendwelcher grauen Technokratien, in denen der kapitalistische Zwang durch einen staatskapitalistischen ersetzt wird und wo der Mensch immer nur noch Menschenmaterial bleibt, eine wirklich andere Welt denken und somit anbieten kann, eine Welt, in der die Menschen wirklich frei sind von der dauernden Erniedrigung zu Nummern in Kosten-Nutzen-Rechnungen. Solange die Linke das nicht auf die Reihe kriegt, werden die Bedrängten und Gedemütigten ihr Heil bei denen suchen, die „Heil“ brüllen.
Dafür gibt es von mir nur ein Danke und ein dickes Lob für die treffende Analyse.