„Türkei will Nutzung von Twitter strafbar machen“, brüllt eine Überschrift der „Welt“ in eben diese hinaus. Echt? Will die Türkei das? Weiter unten im Text lese ich: Nach Angaben der Regierung sollen nur jene belangt werden, die „zu Aufruhr aufriefen“ oder „falsche und irreführende Informationen verbreiten“. Klingt unsympathisch, aber nicht mehr nach dem generellen Twitter-Verbot, das uns die Headline glauben lassen will. Und wie ist die Sache mit den „sozialen Medien“ dort geregelt, wo kein Erdogan und keine islamistische AKP regieren? Als in Großbritannien die Vororte brannten, hat Premier David Cameron angekündigt, Facebook, Twitter & Co für den Fall neuer Unruhen sperren zu lassen. Den harten Worten folgten harte Taten: Jordan Blackshaw (20) und Perry Sutcliffe-Keenan (22) wurden vom Chester Crown Court jeweils zu Haftstrafen von vier Jahren verurteilt, weil sie im Internet zu Unruhen aufgerufen haben sollen. Und wie ist es in New York, dieser Metropole westlichen Lebensstils und freier Meinungsäußerung? wenn Sie dort etwas twittern, und damit „einen falschen Bericht oder eine falsche Warnung über eine Katastrophe oder Notsituation verbreiten, wenn das voraussichtlich zu Unannehmlichkeiten oder zu Panik in der Öffentlichkeit führen kann“, steht darauf bis zu einem Jahr Haft. Nehmen wir an, es gibt eine große Demonstration, jemand twittert, dass die Polizei in die Menge schießen würde, und es bricht Panik aus: Der Tweet wäre strafrechtlich relevant. Außerdem darf, wer in den USA per social media zur Gewalt aufruft, durchaus mit Besuch vom FBI rechnen. In Deutschland sind über Twitter verbreitete Beleidigungen, Verleumdungen und falsche Tatsachenbehauptungen illegal. Im theoretischen Extremfall drohen biss zu fünf Jahren Gefängnis. In Österreich wälzt die Regierung ein „Maßnahmenpaket gegen den Terrorismus“ vor sich her, das unter anderem den Aufruf zu terroristischen Aktivitäten oder das Gutheißen von Terrorismus unter Strafe stellen soll. Diese Beispiele zeigen, wohin die Reise geht und dass viele Staaten schon jetzt, wenn sie es wollen, die sozialen Netzwerke lahmlegen und deren Nutzer kriminalisieren können. Die Türkei hat da gar nix Neues vor, sie schließt nur zu den anderen Staaten und vor allem zu den Nato-Bündnispartnern auf.
Wie dieses Beispiel zeigt, ist das westliche Wedeln mit dem Ausschimpffinger in Richtung Türkei ein wenig bigott. Was ist denn im Land am Bosporus überhaupt passiert? Demonstrantinnen und Demonstranten haben gegen ein geplantes Einkaufszentrum protestiert und diesen Protest nach dem harten Vorgehen der Polizei auch gegen die regierende konservativ-islamische AKP und den türkischen Premier Erdogan ausgeweitet. Spätestens ab dem zweiten Tag waren die Kundgebungen nicht mehr genehmigt und daher illegal. Die türkische Regierung tat dann das, was jede Regierung auf diesem Planeten macht: Sie hat mehr und besser ausgerüstete Cops geschickt, die den Protest mit brutaler Gewalt brechen sollten. Das haben die dann mit Wasserwerfern und Tränengas auch erledigt. Wer verfolgt hat, wie in Frankfurt ein ganzes Stadtzentrum gegen Demonstranten fast militärisch abgeriegelt wurde und wie Politik und Polizei dort die Versammlungsfreiheit faktisch aufgehoben haben, wird sich schwer tun, im Vorgehen der türkischen Behörden eine ganz besondere Bösartigkeit zu erkennen. In ganz Europa ist es durchaus üblich, dass die Polizei mit extremer Härte, die bis zum Schusswaffengebrauch gehen kann, auf Demonstrantinnen losgeht, sobald die Regierungen den Eindruck haben, es ginge ums Eingemachte (und sobald eine kleinere oder größere Gesetzesüberschreitung der Demonstranten als Rechtfertigung herhalten kann).
Interessant ist, dass Leute, die ansonsten jeden Schritt in Richtung Polizeistaat befürworten, die das Folterlager Guantanao verteidigen und denen die Polizei gar nicht hart genug vorgehen kann, wenn zum Beispiel Antikapitalistinnen oder Muslime demonstrieren, plötzlich ihr Herz für den Straßenkampf entdecken, sobald sie meinen, es ginge mal gegen den Richtigen. Die FPÖ, ansonsten verlässlich auf der Seite von Polizei und Schlagstock, verurteilte die Eskalationen in Istanbul ebenso wie es die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP taten. Die politische Elite eines Landes, in dem nervige Tierrechtler wie Schwerverbrecher eingesperrt und mit aller Härte, die Polizeiapparat und Justiz hergeben, drangsaliert werden, fordert von der Türkei „Mäßigung“. Angela Merkel, Letztverantwortliche einer Regierung, die schon mal über den Militäreinsatz im Inneren nachdenkt und auch sonst schnell mit Polizei-Hundertschaften zur Hand ist, wenn irgendwo protestiert wird, ist tief besorgt. Stinkt das nicht alles zum Himmel? Ist diese Verlogenheit nicht unerträglich? Weil´s uns gerade in den Kram passt und weil Erdogan ein politischer Muslim ist, sind wir alle plötzlich ganz doll gegen Polizeigewalt und für Demonstrationsfreiheit? Aber wenn die spanische, griechische, deutsche, italienische Polizei die Leute zusammenschlägt, ist das was ganz anderes? Da möchte man ja kotzen bei diesem Aufmarsch von Heuchlern!
Ich bin nun auch kein Freund von Erdogan und finde die, die gegen ihn demonstrieren, sympathisch. Aber ich sehe auch, dass in der Türkei keine Militärjunta herrscht, sondern eine demokratisch gewählte Regierung, und auch wenn ich kein Formaldemokrat in dem Sinne bin, dass ich Demokratie als reine Diktatur der Mehrheit interpretiere würde, sehe ich im Moment in der Türkei zwar Tendenzen, die ich persönlich nicht gut finde, wie zum Beispiel den wachsenden Einfluss der Religion, aber keinen Zug hin zum Faschismus. Die Türken wollen doch mehrheitlich mehr Islam, also sollen sie auch mehr davon bekommen. Sollen sie sich doch dem Deppentrend des 21. Jahrhunderts anschließen, zusammen mit ihren Kumpels vom arabischen Frühling und mit den christlichen Schwulenhassern und Rechtsextremisten! Die ganze Welt wird seit ein paar Jahrzehnten rasant dümmer, wieso sollten die Türken da eine Ausnahme bilden?
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