Ob der Massenmörder von Oslo wahnsinnig ist, werden die gerichtlichen Sachverständigen zu klären haben. Aber wenn man die öffentlichen Diskussionen seit „7/22“ verfolgt, drängt sich einem der Schluss auf, dass der Wahnsinn die Gesellschaft und den Diskurs schon wieder in einem Ausmaß durchdrungen hat, wie es Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland der Fall war. Der Wahnsinn tritt auf in Form von Hysterie und Paranoia und im Verstummen der Gemäßigten, deren Stimmen im aufgewühlten Gekreische ohnehin niemand mehr hören würde. Die islamfeindliche, xenophobe Rechte verschanzt sich trotzig in den von ihr ausgehobenen Schützengräben des „Kulturkriegs“ und ballert verbal auf jeden, der es wagt daran zu erinnern, dass einer Dauerpropaganda, die sich verallgemeinernd gegen alles Muslimische wendet, die muslimische Frauen als Gebärkanonen des Djihad verunglimpft, die alle, welche links von ihr stehen, zu Volksverrätern stempelt und die in einschlägigen Foren vom bevorstehenden Bürgerkrieg und von notwendiger Bewaffnung schwadroniert, auch mal (Un)Taten folgen können, wie ja offensichtlich in Norwegen geschehen. Panisch-aggressiv wird jeder noch so gut begründete Hinweis auf die geistige Mittäterschaft zurückgewiesen und jedem Kritiker unterstellt, er wolle den Massenmord an jungen Sozialdemokraten doch bloß missbrauchen, um politisches Kleingeld zu wechseln. Diese Rechte ist die „Verfolgende Unschuld“ schlechthin, sie wirft sich nun in Opferpose, obwohl sie in ganz Europa Hass und Umsturzgedanken verbreitet und, trotz der Verkleidung als „neu“ und „pro-israelisch“, bei genauerem Hinsehen doch nur der alte stinkende Rassisten- und Antisemitenhaufen ist, der sie immer war.
Auf der anderen Seite schießen etliche Vertreter der politischen Mitte und der Linken weit über jede zulässige Kritik und Dokumentation hinaus und werfen Islamkritik und Hetze gegen Muslime in einen Topf, was sich dann nicht nur in oberlehrerhaften Zeitungskommentaren äußert, sondern auch bis hin zu wüsten Beleidigungen und Drohungen gegen prominente Vertreter des islamkritischen Szene reicht. Henryk M. Broder zum Beispiel, den muss man nicht mögen, man braucht nicht seiner Meinung zu sein, aber ihm, der vieles ist, aber mit Sicherheit kein Rassist oder Faschist, jetzt einen Strick drehen zu wollen, weil der Breivik ihn zitiert hat, ist nicht nur lächerlich, sondern auch gefährlich. Wahnsinnig halt. Broders trotziges Um-sich-hauen hilft aber nicht gerade, diesen Wahnsinn einzudämmen. Wäre ich Broder und hätte sich der skandinavische Sozialistenkiller in seinem so genannten „Manifest“ explizit auf mich berufen, würde ich mir zumindest die Frage stellen, ob meine fast schon neurotische Fixierung auf alles Schlechte, auf das man mit viel Kreativität noch das Etikett „islamisch“ pappen kann, nicht doch von labilen Charakteren als Aufforderung missvertanden werden könnte, und ob es wirklich so harmlos ist, wenn mich die real Irrsinnigen von „politically incorrect“ andauernd verlinken und loben und wenn ich auf meinem Blog Eva Herman zur Seite springe, die mit dem antisemitischen und islamophoben Kopp-Verlag verbandelt ist. Nun bin ich aber nicht Broder, worüber sowohl ich, als vermutlich auch er recht froh sind, und ich habe ihm keine Vorschriften zu machen, wie er mit der Sache umgehen soll. Er ist Polemiker, Satiriker und unter anderem auch Islamkritiker, und wer für eine offene Gesellschaft ist, der wird dafür eintreten, dass Polemik, Satire und Islamkritik nicht mundtot gemacht werden dürfen.
Kurz: Statt dass sich nach dem furchtbaren Anschlag in Norwegen sowas wie Reflexion und Innehalten zeigt, wird das Hauen und Stechen nur intensiviert. Und wenn man sich das ansieht, dann erscheint einem Breivik auf einmal gar nicht mehr so wahnsinnig und außergewöhnlich, sondern als ein Symptom einer rapide dem Wahnsinn verfallenden Gesellschaft.