Zu meiner Überraschung stellte ich heute fest, dass Lotte Ingrisch noch lebt. Ein Umstand, der ihr wohl unangenehm ist, wenn ich den Gastkommentar, den sie für die Tageszeitung „Der Standard“ geschrieben hat, richtig verstehe. Meine Leserinnen und Leser außerhalb Österreichs kennen die Dame vielleicht nicht, daher eine kurze Vorstellung: Lotte Ingrisch ist eine Wiener Autorin, die mit dem Philosophen Hugo Ingrisch und dem Komponisten Gottfried Einem verheiratet war. Seit den 1970er Jahren bespaßt sie in ihrem Salon die höhere Wiener Gesellschaft mit ihren angeblichen Kontakten zum Jenseits, von wo aus ihr, wie sie behauptet, verstorbene Größen der österreichischen Intellektuellenszene ganze Bücher diktiert haben sollen. Als „Jenseitsforscherin“ hält Ingrisch eine Weiterexistenz nach dem Tod für gegeben und sie behauptet, dieses Leben nach dem Tod sei ein glückliches – außer für Selbstmörder, was insofern eine pikante Idee ist, als Ingrisch sich nun für Mord- und Selbstmord einsetzt. Sie nennt es „Sterbehilfe“.
In Deutschland, behauptet Ingrisch, sei etwas „Schreckliches passiert“. Man habe dort „das Sterben verboten. Genauer: Das Recht zu sterben, irrtümlich Selbstmord genannt“. Das ist schlicht falsch. Der deutsche Bundestag hat lediglich das geschäftsmäßige Töten verboten, also die Euthanasie als bezahlte Dienstleistung. Echte Sterbehilfe, etwa die nicht kommerzielle Unterstützung kranker Menschen durch Schmerztherapie und sogar die Beratung über Möglichkeiten, das Sterben zu beschleunigen, bleibt straffrei. Nun will ich da aber nicht so streng sein mit Frau Ingrisch, denn wer mit den Toten redet, hat es erfahrungsgemäß nicht so mit den Fakten. Richtig problematisch wird ihr Text, sobald sie ihre ideologisch Agenda offenbart: „Das Schöne am Leben ist natürlich der Tod, und gerade den will euch und uns die Politik jetzt verbieten“. Dass der Tod schön sei, war und ist der Leitspruch der Faschisten dieser Welt, die so viele Menschen, die gerne gelebt hätten, ermordet haben und immer noch ermorden. Die angebliche Schönheit des Todes ist das zentrale Motiv derer, die das Leben und alles Lebendige verachten. Radikale Islamisten denken zum Beispiel so. Das Leben, das reale Dasein, ist für sie unrein und mit Sünde befleckt. Erst im Tod beginnt für sie das echte Leben, denn im Jenseits liegt das Paradies.
Hinter all dem metaphysischen Klimbim steckt die harte materialistische Realität gerade bei denen, die diese abzulehnen behaupten. Diese alt bekannte Tatsache offenbar sich auch im weiteren Verlauf des Ingrisch-Textes, denn sehr rasch kommt die Frau darauf zu sprechen, was ihr wirklich wichtig ist: Geld. „Wir brauchen eine neue Ars Moriendi, denn wir haben das Sterben verlernt. Wir kämpfen um unser Leben, weil wir glauben, dass wir nichts anderes haben. Wir klammern uns an den Leib, weil wir glauben, dass wir nichts anderes sind. Ein materialistischer Aberglaube, der jeden Staat in den Bankrott treiben wird. Lebenssucht, die teuerste aller Süchte, wird selten von denen bezahlt, die sie befriedigen“. Die freche Unlust der Alten und Kranken, doch bitte rasch zu verrecken, kostet den Staat Geld. Wer sich weigert, zu sterben, ist also ein Schädling am finanziellen Wohlergehen des Gemeinwesens. In den Mord-Kliniken der Nazis hatte man eine Ars Moriendi bereits praktiziert und die teuren Behinderten zu Hunderttausenden in ein angeblich besseres Jenseits befördert. Mit genau den Argumenten, die Frau Ingrisch jetzt wiederkäut. All die Kranken und Behinderten kosteten die „Volksgemeinschaft“ einfach zu viele Reichsmark, weswegen es nicht nur gnädig, sondern ein Dienst an den gesunden Volksdeutschen sei, sie zu ermorden.
Was war die Voraussetzung für den Massenmord der Nazis an Kranken und Behinderten? Deren Dehumanisierung und Devaluierung. Erst wenn menschliches Leben entwertet wurde, können die Mörder seelisch entlastet zur Untat schreiten. Ingrisch schließt sich dieser Entlastungsstrategie an: „Da wir unsere biologische Existenz für die einzige halten, haben wir das Leben für heilig erklärt. Soweit es uns betrifft, verteidigen wir es mit äußerster Grausamkeit. Was soll daran heilig sein?“ Nun steht es mir nicht zu, die religiösen oder „spirituellen“ Überzeugungen anderer Menschen schlecht zu reden, aber nicht nur die seriöse Bewusstseinsforschung legt nahe, dass die „biologische Existenz“ die einzige ist, die wir je haben werden. Auch die Weltreligionen sind sich der Einmaligkeit der physischen Existenz bewusst, denn in seltener Übereinstimmung halten sie das Leben für heilig. Wie sie das im Einzelfall theologisch argumentieren, ist weniger interessant und aufschlussreich als das Faktum selbst, denn hinter den Metaphern steckt wohl wenigstens die Ahnung um die Finalität des Todes. Die Denker und Denkerinnen unter den Theologen sind daher traditionell schlechte Verbündete der Mordbuben (die Nicht-Denker und Wörtlichnehmer unter ihnen dafür umso bessere).
Dann packt Ingrisch einen Klassiker aus uns jammert: „Der medizinische Fortschritt gestattet kaum ein natürliches Ende“. Was ein natürliches Ende sein soll und wodurch ein unnatürliches definiert wird, sagt uns Ingrisch nicht, da sie auf die Macht der Floskeln setzt. Wer noch nicht verblödet ist, weiß freilich, dass ein „natürliches Ende“ der Tod ohne Fremdverschulden ist, das „unnatürliche“ dagegen ist Mord und Totschlag. So schwammig Ingrischs Definition von Natürlichkeit auch sein mag, stellt sich doch die Frage, wie sie das Totspritzen von Menschen, das sie als „Recht“ einfordert, als „natürliches Ende“ halluzinieren kann. Die Umkehrung von Begriffsinhalten gehört freilich gerade in esoterischen Kreisen zum normalen Handwerk. Unwidersprochen stehen lassen muss man es deswegen noch lange nicht.
Wie sehr viele aus der Eso-Szene hat Ingrisch eine seltsamen Liebe zu Viren und Bakterien. Das führt dann zum Höhepunkt der Absurdität in ihrem Text. Die moderne Medizin sei böse, denn: „In der Alchemie der Verwesung entsteht Leben. Wer Tod verhütet, treibt Leben ab“. Denkt denn keiner an die armen Bakterien und Würmer, denen die fiese Schulmedizin ihr Futter vorenthält?
Der Text von Lotte Ingrisch ist klassische Euthanasie-Propaganda, die mit Begriffsverwirrung arbeitet und letztlich zum Ziel hat, die Volkswirtschaften von den teuren Kranken, Alten und Behinderten zu befreien. Sterbehilfe, wie sie hier gefordert wird, meint Mord. Echte Sterbehilfe bedeutet, sterbenden Menschen eine möglichst schmerz- und angstfreie letzte Lebenszeit zu ermöglichen. Sie bedeutet, die Schmerzforschung zu intensivieren und bei der Behandlung nicht an Schmerz- und Beruhigungsmitteln zu geizen. Sie bedeutet, Menschen auch an der Schwelle zum Tod ein Leben in Würde zu ermöglichen. Mord ist das Gegenteil von Sterbehilfe, das Gegenteil von Respekt, Würde und einer liebevollen, wertschätzenden Herangehensweise an Mitmenschen.